Man weiß nicht, ob die im Oktober 2010 tagsüber an sechs öffentlichen Anschlagtafeln durch geführte Plakatierungsaktion Ohne Titel (Regional Kultur) von Heike Bollig und ihr visuelles Resultat im Stadtraum von Bad Ems von den Bewohner/innen und Besucher/innen des beschaulichen Kurstädtchens je bewusst bemerkt wurde oder ob sie den ein oder anderen gar nachhaltig bewegt hat. Spuren hinterlassen hat Bollig, die sich bereits seit längerem in einer künstlerischen Recherche, zuletzt im Plakatmuseum Essen, und in den daraus hervorgehenden Arbeiten mit historischen wie aktuellen Präsentations- und Erscheinungsformen von Reklame und Werbeanzeigen beschäftigt, mit ihrer „Revier-Markierung“, ihrer „Auslegung einer Fährte“ auf unbestimmte Zeit dort aber mit Sicherheit. Auch wenn diese jetzt vermutlich nicht mehr auf den ersten Blick zu entziffern sind, wurden die Poster – drei unterschiedliche Motive in 100 x 70 cm, davon zwei in flirrendem und partiell fleckigem Streifen- und Karodesign in Schwarz-Weiß und eines in Pink – doch vermutlich inzwischen weitgehend mit neuen Anschlägen überklebt. Aber wer weiß? Es ist durchaus möglich, dass noch einige Überreste der sich selbst überlassenen, rein visuellen und in ihrer Erscheinung an die Op-Art erinnernden Blickfänger von Heike Bollig unter neueren Bekanntmachungen hervorspitzen oder in tieferen Schichten der Vergänglichkeit trotzen. Doch für was warben eigentlich diese Plakate, die keine Signatur enthielten, keinen konkreten Hinweis auf ihre Herkunft oder ihre Urheberin gaben?
Eine Auflösung des Rätsels um die anonymen Poster, die ähnlich einem zeitgenössischen Street-Art-Projekt wie man es aus den großen Metropolen kennt plötzlich in der rheinland-pfälzischen Kleinstadt mit ihren knapp über 9.000 Einwohner/innen zwischen, unter und über den bunten Reklameaushängen für „Rock gegen Mobbing“, „Tanz in den Mai“, das Herbstfest der SPD oder „Schwanensee on Ice“ – vielleicht ja auch alternativ hierzu – aufgetaucht waren, ergab sich für die Neugierigen und die aufmerksamen Beobachter/innen des kulturellen Treibens in Bad Ems erst im über der Stadt thronenden Künstlerhaus Schloss Balmoral. Denn dort fand zeitgleich mit der mysteriösen Plakataktion die obligatorische Ausstellung der Stipendiat/innen statt, zu denen auch Heike Bollig zählte. Mit Ohne Titel (Regional Kultur), 2010 und Billboard, 2010, ihrem Ausstellungsbeitrag im Künstlerhaus in Form einer weißgrundigen Stellwand, auf der dieselben Plakate wie im Stadtraum angebracht waren, stellte die Künstlerin aktiv eine Verbindung her zwischen Innen und Außen, zwischen den privilegierenden Mauern und Rahmenbedingungen der Institution des Künstlerhauses, ihrem Atelier, dem soziokulturellen Stadtraum und seinen alltäglichen Nutzer/innen. Vermutlich auf Basis ganz grundsätzlicher Fragen nach den Wirkungspotentialen des Mediums Kunst: Welche Bedingungen müssen existieren, damit ein Kunstwerk als solches gesehen wird, wie und wo kann es platziert werden und welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Ein Themenkomplex, der viele moderne wie zeitgenössische Künstler/innen immer wieder bewegt hat, von denen hier besonders auf Daniel Buren verwiesen sei, der im politisch folgenreichen Jahr 1968 in Paris mit Aushängen, auf denen sein typisches Streifenmuster abgedruckt war, experimentierte. Neben der Realisierung einer 5 x 18 m großen, mit Streifenplakaten tapezierten Reklame-Wand am bekannten Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris führte er 200 „Affichages sauvages“ durch, wilde und illegale Plakatierungen seiner Streifenplakate auf nicht-öffentlichen städtischen Werbewänden. Parallel dazu ließ er gleichartig bedruckte Papiere anonym verschicken und zwei Personen als Sandwich-Men mit seinen Streifenplakaten durch die Stadt laufen, mit dem Ziel vor Augen, die Wirkung und die Lesbarkeit seines grafisch-konzeptuellen Motivs an ganz unterschiedlichen Displays und Standorten zu testen.
Doch zurück nach Bad Ems, ins Künstlerhaus: Das dort in ihrem ansonsten komplett leer geräumten Studio ausgestellte Billboard von Heike Bollig diente nicht nur als Trägermedium für ihre Plakate, die darauf teils nur noch als Abrisse zu sehen waren, sondern es gab auch einen Hinweis auf deren Geschichte, womit man das gesamte Objekt als eine Art Schlüssel für die hier besprochene Arbeit der Künstlerin verstehen kann. Die bunten Farbspuren und -tropfen, die ebenfalls auf dem Display erkennbar waren, verwiesen auf die Tätigkeit der Künstlerin als Malerin, der die Stellwand als Hintergrund diente, während sie an Bildern gearbeitet hat. Realisiert man schließlich, dass Bolligs Poster im Stadtraum fotografische Reproduktionen genau dieser großteils vor Ort entstanden Malereien sind, kommt man einer möglichen Lösung des Rätsels näher, wobei es dennoch unentschieden bleibt, ob sich hinter den Plakatierungen der Künstlerin eine subversive, aus dem Atelier auf die Straße verschobene Werbeaktion für ihre gemalten Werke verbergen sollte, ob sie ein Experiment des (Sich-)Zeigens vor Augen hatte oder ob es vielmehr um einen Ausdruck ihrer eigenen Aufgespaltenheit, ihrer Skepsis gegenüber der immer wieder zelebrierten und kanonisierten Idee vom autonomen Künstlertum und den hehren Institutionen „Kunst“, „Atelier“ oder „Museum“, im Speziellen von „Malerei“ gehen sollte, welche ja selbst allerspätestens mit dem aktuellen Phänomen des „Readymade Painting“ oftmals den Charakter von bloßer Aneignung und plakativer Wiederholung bereits bestehender Motive oder Modelle von Malerei und damit zweitweise auch von banaler Dekorationsware angenommen hat. Eines ist jedoch klar: Beide, die Plakataktion im Außenraum wie auch Bolligs im Atelier stattfindenden malerischen Experimente in Öl, Acryl und Sprühfarbe auf Leinwand oder auch mit in den Leinwandstoff eingearbeiteten Textilaccessoires, wie sie das pinkfarbene Motiv zeigt, können jeweils auch für sich selbst stehen. Ihre Verbindung aber, die wohl nur einige der Kunstinteressierten in Bad Ems in ihrer Vollständigkeit wahrgenommen haben, spricht jedoch Bände und verweist wohl – zumindest selbstreflexiv, vielleicht ja auch unterschwellig selbstkritisch – auf die Bedingungen des weitgehend geschlossenen Kreislaufs von kreativer Produktion, Kontextualisierung, Präsentation, Dokumentation, Verwertung und Interpretation, dem wir als engagierte Kulturarbeiter/innen heute doch alle zumeist recht fleißig zuarbeiten. So wird aus dem Painting ein Poster, aus dem malerischen Akt im Atelier eine Aktion im Außenraum, die in künstlerischen Dokumentationsfotografien festgehalten wird, damit, als weiteres Glied in der Kette, ein Text darüber verfasst werden kann, der gelesen und weiterverarbeitetet wird…