Im Februar 2008 fuhr ich langsam durch das russische Viertel rund um den Ritan Park in Beijing. Vor einem Kaufhaus stand eine riesige, mit bunten Zetteln beklebte Wand, groß wie eine Major-Werbeaktion. Unmittelbar davor stand ein Wachmann in einen dieser grünen Militärmäntel mit Pelzkragen gekleidet. Seine Anwesenheit bezog sich jedoch weniger auf die Wand als auf die daneben gelegenen Parkplätze, wie sich schnell herausstellte. Ein chinesischer Freund übersetzte mir, dass es sich bei den handgeschriebenen Aushängen um persönliche Wohnungsgesuche und Mietangebote handelte — also um das gleiche Business, wie es bei uns existiert. Als könnten sie aus Berliner Copyshops kommen, waren die Anzeigentexte auf einfarbigem Kopierpapier in genau denselben Grün-, Orange-, Blau- und Gelbtönen notiert. Vermutlich kommt das Papier aus China. Und entsprechend der Größe des Landes mussten die Kommunikationsflächen einfach proportional größer sein, während man sich bei uns mit Laternenpfählen, Pinnwänden in Supermärkten, Universitäten oder im Copyshop direkt begnügt. Diese Stellwand gehörte aber keineswegs zum städtischen Standardmobiliar, zu dem vor allem runde, orangefarbene Telefonhauben aus den 1960er Jahren zählen, oder massive, hohe Geländer an Bushaltestellen, als könnte man von dort in „Sky Flyer", „Twister" oder einem anderen Karussell abheben. Hingegen auf die Erde geholt wurde eine Regenbogenskulptur, deren Neonlichter nachts über der Chang`an Straße
als Chinas Friedenszeichen und Torbogen zur Zukunft leuchten. Wenn man zum ersten Mal in eine unbekannte Stadt kommt, dann fällt ihr Mobiliar ganz besonders auf. Die Künstlerin Heike Bollig ist in Berlin immer wieder auf dem Fahrrad unterwegs, um Formen öffentlicher Kommunikation aufzunehmen. Sie hat einen beständigen Blick für das Beiläufige und Gewohnte, auch wenn sie ihre Umgebung schon gut kennt. Zuerst waren es selbst gemachte Abreißzettel, von denen sie besonders auffällig gestaltete Exemplare in Läden und Universitäten sammelte. So zeigt der große runde Hasenkopf, wie eine unbekannte Autorin ihr grafisches Können für maximale Aufmerksamkeit eingesetzt hat. Ein Hase wirbt für eine freie Wohnung neben dem Berliner Park Hasenheide. Schon das Einmaleins der Werbung lehrt: Niedliche Gesichter von kleinen Kindern und Tieren stellen eine emotionaleVerbindung zum Betrachter her. Fasziniert war sie von der ästhetischen Mischung aus naiver Kinderzeichnung und erfahrenem Manga. Dem lieben Hasen die Zähne ausreißen zu müssen, weil da die Telefonnummer draufsteht, das brach für Heike Bollig eine Regel. Von der gefundenen Anzeige hat die Künstlerin eine größere Version gezeichnet und gerahmt. Damit ist das vergängliche Alltagswerk als Readymade aus seinem vorläufigen Kommunikationssystem entfernt und für unbestimmte Zeit bewahrt. Konzeptuell geht die Künstlerin bei ihrem Gestaltungsprozess so vor, dass sie nur die signifikante Form des Zettelfundstücks beibehält und seine Wiedererkennbarkeit gewährleistet.Alternativ übersetzt sie ihre Fundstücke auch in dauerhafte Materialien wie Ton oder Beton und beraubt sie so gänzlich ihrer Funktion. So bekommt der Vorgang des Bewahrensauch etwas beharrlich Ironisches verliehen. Heike Bollig sieht wie Henri Lefebvre, der sich als Soziologe mit den Phänomenen des Alltags befasste, die Stadt nicht als Produktionsmaschine, sondern als fortdauerndes Kunstwerk, das frei zu verwenden ist: „Der außerordentliche Nutzen der Stadt, also ihre Straßen und Plätze, Gebäude und Denkmäler, ist la Fete (ein Fest, das unproduktiv konsumiert wird)." Nicht dass sich die Künstlerin vehement gegen die Kommerzialisierung des Stadtraums richten würde, aber ihre künstlerischen Übersetzungen sprechen eine ähnliche Sprache feierlichen Widerstands. In diesem Jahr recherchierte Heike Bollig Formen und Funktionen von Litfaßsäulen und Brunnen. Beides sind kommunikative Objekte: Das eine macht den Passanten flüchtig zum Leser und das andere bietet eine Stelle für zufällige Gespräche an. Ihre Strategien, Aufmerksamkeit zu konzentrieren, erreichen aber meist nicht mehr das öffentliche Bewusstsein, denn man hat sich an sie gewöhnt. Ihre Zeit, als sie noch Merkmal für großstädtisches Leben waren, scheint vergangen. Seit einigen Jahren kann man beobachten, wie viel ausladendere Formate, ganz ähnlich den amerikanischen Billboards, die gemeine Litfaßsäule abzulösen beginnen. Hinter den neuen Werbeflächen verschwinden vorübergehend ganze Hausfassaden, um Platz zu machen für Werbung in Übergröße. Heute müssen die Plakate an Litfaßsäulen schon so glänzend aussehen wie eine Seite im Modemagazin oder die Fassade eines modernen Hochhauses, damit sie überhaupt Aufmerksamkeit erlangen. Denn da manifestiert sich die kapitalistische Aufmerksamkeitsformel der Gegenwart: Größe und Glanz. Nun holt Heike Bollig Brunnen und Litfaßsäule aus dem öffentlichen Raum in die Kunstinstitution und inszeniert, ähnlich einer Weltausstellung, Dinge der Außenwelt im Innenraum. In den Diskurs um die Nutzung und Gestaltung öffentlichen Raums steigt sie nicht offensichtlich ein, sondern nimmt sich dem Basisvokabular von städtischem Mobiliar an. Daraus setzt sie eine simultane Stadt-Skulptur zusammen, wobei den Bestandteilen im Moment des Zusammentreffens ihre ursprüngliche Funktion abhanden kommt. Denn in diesem Zustand macht die Litfaßsäule Werbung für die Künstlerin Heike Bollig. Eigentlich fängt sie ganz vorne an, mit einer blanken Litfaßsäule wie einem unbeschriebenen Blatt Papier: In der Geschichte des Kunstvereins — ein typisch deutsches Phänomen — in unterschiedlichen Formen, Mengen und Intensitäten. Bollig verändert die Litfaßsäule zu einem eigensinnigen, unterhaltsamen Objekt und wirbt gewissermaßen für einen saloppen Umgang mit den Dingen im öffentlichen Raum. Zwei verschiedene Gestaltungsformen gehen eine Verbindung ein: eine kapitalistisch und ordnungsmotivierte Annonciersäule und eine der Zerstreuung gewidmete Wasserkomposition. So wie die vielen Plakatierer mit ihren gebastelten Annoncen den öffentlichen Raum in wilde „Unordnung" versetzten, bevor Ernst Litfaß die Säule erfunden hatte, arrangiert sie die glatte, weiße Oberfläche der Litfaßsäule mit teils gefundenen Düsen (etwa dem Trichter einer Gießkanne oder einem Duschkopf) auf neue Weise. Um Wertschätzung alltäglichen Ausdrucks und um genaue Beobachtung der Wahl der Mittel geht es Heike Bollig auch in ihrem „Brief an Ernst". Der Brief ist eigentlich kein Brief, sondern ein Andenken an den Erfinder der Litfaßsäule, Ernst Litfaß. Erzählt wird eine fantastische Anekdote, die sich in der Logik eines Werbeclips ereignet. Mit Mitteln der Collage erfindet Heike Bollig ein urbanes Geschehen, in dem sie mit Ernst Litfaß durch die Stadt spaziert und auf eine noch rauchende, zerbombte Litfaßsäule stößt. Damit torpediert diese imaginäre Litfaßsäule ihre eigene Geschichte: Früher war sie auch Medium für Fahndungsposter und andere öffentliche Aufrufe. Während des Nationalsozialismus diente sie der Propaganda und nach dem Zweiten Weltkrieg haben viele Menschen ihre vermissten Angehörigen über Litfaßsäulen gesucht. Die Erzählerin erinnert sich nicht, ob sie in den Sabotage-Akt involviert war, oder ob er sich nur in ihrer Fantasie ereignet hat. Die formale Idee des Textes, nämlich ein schräg eingezogenes Papier zu simulieren, verleiht dem Knall seine Plötzlichkeit auch auf der visuellen Ebene. Mit der Explosion setzt Heike Bollig ihrer Arbeit dem Feilen am Aufmerksamkeitsspiel eine Spitze auf. Man kann sagen, ihre Soziologie des öffentlichen Raums liefert gleich eine imaginierte Rebellion dagegen mit.